Nachlese 2015

Februar

Die Neureuth

Tegernsee vor schneebedeckten BergenSeit Tagen vegetieren wir wieder im Wintertopf. Fröstelnde, ummantelte Wesen im nasskalten Milieu, modernd unter dem fest verschlossenen, grauen Wolkendeckel, ab und zu gewürzt mit Schneeschauern und Graupelgegriesel und reichlich übergossen mit Regen. Wie einfach macht uns der mitteleuropäische Winter den Rückzug, wie selbstverständlich lässt sich der Aktionsradius auf das Nötigste beschränken. Wir halten still, bleiben sogar meist froh, unsere regelmäßige gemeinsame Übungspraxis stärkt. Wir beobachten die ersten Spuren neuen Lebens in den Büschen und Hecken vor dem Fenster. Die Knospen am Fliederbaum zeigen schon eine beachtliche Größe, am Rand der matschigen Wiese leuchten Winterlinge und Schneeglöckchen. Seit meinem ersten Kontakt mit Qigong besuche ich, Schülerin mit nicht endender Lernlust, den Unterricht bei verschiedenen Lehrern. Einmal aber habe ich einen Wintertag lang blau gemacht, nicht wie die Blaufärber wegen des Alkoholdurchflusses, sondern wegen des, auch bei jenen erwünschten, klaren Himmels. Es ist ein Februartag wie ein Illusion. Am frühen Morgen schwebt unser Flieger aus dem frischen, grenzenlosen Blau ins verschneite Erdinger Moos. Das bayerische Voralpenland strahlt, die Sonne wärmt, die Vögel zwitschern, die der Winternacht entkommenen atmen tief. Der Kurs in München beginnt um 10, ich werde fehlen, denn es ist entschieden: Heute müssen wir in die Berge, Unterricht hin oder her. Der Lehrer versteht und entlässt mich. Der Aufstieg vom Ufer des Tegernsees hinauf durch den kühlen Wald ist steil. Wie lange habe ich diesen Luftduft vermisst, beinahe vergessen. Jetzt  überrascht er uns beide, bringt die Nasen zum Fließen, die Bronchien zum Turnen, die Herzen zum Pochen und die Gesichter zum Grinsen. roter Himmel über dem TegernseeDer Weg noch stellenweise vereist und schneebedeckt, ein Rodler saust uns entgegen. Oben die Neureuth Alm mit sonnenüberschwemmter Südwestterrasse, der wahrhaft herrscherlich dampfende Kaiserschmarren mit einer Schüssel Apfelmus auf dem Tisch und eine Aussicht, die die Herzenergie strömen lässt, innen und außen, dicht und unendlich zugleich. Die Aussicht, blendend über den weißen Berggipfeln und tiefschattig im Tal, beglückend im Herzen und klärend im Geist, entfaltet die Seele. Lange ruht der Blick dort, wo der Himmel näher scheint. Kühler Abstieg auf schattigen Waldwegen am späten Nachmittag. Als wir das Auto erreichen, spiegelt sich der rote Abendhimmel im See. In der Dämmerung fädeln wir uns in die kriechende Autobahnschlange aus Urlaubsheimkehrern ein, am Nachthimmel die ersten Sterne. Eine scheinbar aus dem schwarzen Himmel ausgestanzte runde Scheibe ist ein wenig verrutscht und lässt das gleißende Licht aus dem All in Form einer schmalen Sichel hervorblitzen. Es heißt, in Wahrheit verdecke der Erdschatten die lichtreflektierende Mondscheibe nicht mehr vollständig. Neumond ist gerade vorbei und das chinesische Jahr der Ziege hat begonnen.Zum Seitenanfang

März

Der Bastberg

Hügellandschaft im DunstSo grau wie der Tag unter Schleierwolken, eher Winter als Frühling, ist auch er nichts Großes in den nördlichen Vogesen, der Bastberg. Eher Hügel als Berg und in Bouxwiller für Ortsunkundige eher zu erraten als zu erkennen. Für uns umso überraschender, dass er unter Geologen und Paläontologen als Berühmtheit gilt. Denn 1812 fand Georges Cuvier in den Bastberger Steinbrüchen fossile Knochen- und Pflanzenreste, die auf die abstrakte Zahl 50 Mio Jahre (Erdzeitalter des Tertiär) und Oolithen, die in das Erdmittelalter (150 Mio Jahre, Jura) verweisen, einschließlich einer inzwischen ausgestorbenen Tierart, die in der damals tropischen Ufervegetation eines Sees beheimatet war, der sich weit über das Hanauer Land ausgebreitet hatte. Personen vor einem SteingebildeLophiodon buchsovillanum wurde das Tier nach seinem Fundort benannt, der sich in für uns unvorstellbaren Zeiträumen allmählich aus Kalk und Sandstein aufgebaut hatte. Über die heute baumlose Hochfläche pfeift der Wind. Ungehindert schweift der Blick weit in die Täler der Nordvogesen und über Streuobstwiesen zu aufgeräumten Dörfchen. Die Luft riecht nach Holzfeuer. Eine paradiesische Gegend auch für den jungen Straßburger Studenten Goethe, dessen Fundstücke ihn vom Bastberg auf den ausgetrockneten Grund eines imaginären Meeres versetzten. Aufwändige Schautafeln stufen den Wanderweg zum Gipfelkreuz als geologischen Lehrpfad ein. Eine Reihe Chorten, formal dem buddhistischen Stupa entlehnte Gebilde markieren dabei besondere Fundorte. Jeder der individuell gestalteten, gedrungenen Türme ist aus dem örtlich anstehenden Gestein errichtet. Kopf eines SteindrachensEine Tafel informiert darüber und begleitet mit einer bedenkenswerten Notiz den weiteren Weg. Zum Beispiel der 6. Chorten: Auf einem Sockel, der als umlaufende Bank den Wanderern zur Rast dient, erhebt sich ein zylindrischer Mittelteil mit einer horizontal liegenden Schießscharte, durch die sich das Château de Lichtenberg anvisieren lässt und der nach oben mit einer konisch zulaufenden Helmform abschließt. Geschrieben steht u.a.: Le Casque (=der Helm). Grès (Sandstein, 240 Mio Jahre). "Je suis le combat intérieur de chacun pour la sobriété. Je suis le chorten de la maîtrise. Ich bin das Ringen eines jeden Menschen um Mäßigung. Ich bin der Chorten der Selbstbeherrschung". Weiterswiller mit dem Zen Tempel des Kosan Ryumon Ji ist nicht weit. Wir betrachten den neuen Drachen und die inzwischen einjährige Klosterglocke aus Japan, der mächtige Buddha erfüllt das stille Zendo.Zum Seitenanfang

April

Gérardmer

Blick in die Hügelkette der VogesenDie Feiertage waren vorüber, die Besucher abgereist und die Zeit des noch unbeständigen Wanderwetters gekommen. Nun den Rucksack einpacken und ein Ziel im Naturpark Südvogesen ansteuern. Welche Attraktion Gérardmer in den Sommermonaten besitzen muss, zeigt sich bereits aus der Ferne. Mit Ferienhäusern übersäte Hänge und Hinweisschilder auf Campingplätze wecken einen Moment lang Zweifel an der Qualität unserer Wahl. Bei näherem Hinsehen erkennen wir erleichtert, dass Türen und Fensterläden geschlossen und die Nomaden der Gegenwart noch nicht eingetroffen sind. Keine Ferienzeit, still liegt der See zwischen dichten Fichtenwäldern am Fuß der Berge. Der nächste Morgen ist wolkenlos auf dem verschneiten Col de la Schlucht, in 1200 Metern Höhe weht eine frische Luft. Sanft aber beständig, immer auf einer geschlossenen Schneedecke, steigt der alte Grenzpfad zum Vogesenhauptkamm hinauf. Nach hundert Höhenmetern bereits erreichen wir eine Hochebene, schattenlos blenden die Schneefelder unter der Kapelle am Ufer eines SeesMittagssonne in dem mit zunehmender Höhe niedriger und schütter gewordenen, noch unbelaubten Buchenwald. Jetzt ist es nicht mehr weit bis zum baumlosen, windexponierten Gipfelbereich in knapp 1300 Metern Höhe, der Weg führt wie am Rand einer Aussichtsplattform entlang, die grandiose Sicht reicht über das Münstertal hinweg bis zu den weißleuchtenden Schneegipfeln des Schwarzwaldes, der seine Skyline über den Dunst des Rheintales hebt. Immer wieder halten wir an, verweilen lange, schweigend in der Betrachtung der Umgebung aus der Warte des Greifvogels, der sich drüben nahe dem Felsen niedergelassen hat. Auf den Südflächen des Tanet hatte die starke Mittagssonne bereits erste kleine Flächen von Schnee befreit und wärmt die weichen, dicken Moos- und Heidekissen. Einzelne Windböen sausen zischend über die fast baumlose Hochebene, sonst ist es vollkommen still. Später lockt die unbewegte Oberfläche des Gletschersees Lac de Longemer im sanften Licht des späten Nachmittags zu einer Bootsfahrt, Blühende Narzissen am Ufer eines Seesim Tal steigt Rauch auf, ein Teppich aus niedrigen Narzissen (Les Conquilles) bedeckt die Uferwiesen, romantisch schaukelt das Spiegelbild der mittelalterlichen Kapelle Saint-Florent-des-Graviers im Wasser. Der folgende Wandertag führt uns in Richtung Route des Crêtes, wieder über Schneefelder und Hochweiden in sanftem Auf und Ab bis zur höchsten Erhebung Le Hohneck auf 1363 Metern. Ein kalter, kräftiger Wind pfeift, das höchstgelegene Gasthaus der Vogesen ist noch geschlossen, wir sitzen allein auf der riesigen Holzterrasse mit Rundblick bis zu den Viertausendern der Alpen. Ein selbstgeschnitzter Wanderstock erinnert an die Stunden, in denen meditatives Gehen und Lauschen in die Stille Raum und Zeit vergessen ließen.Zum Seitenanfang